Von Martin Eisenhut
Kommentiert von Madeleine Hofmann

Der Retter der Welt trägt einen eng geschnittenen blauen Anzug und verabschiedet sich mit einem höflichen „Namasté“. Der Retter der Welt heißt Kaif Ali und spricht englisch mit indischem Akzent. Gerade hat er auf der Bühne sein Konzept vorgetragen, wie man aus verrosteten alten Schiffscontainern, die normalerweise auf dem Schrottplatz landen würden, stattliche Behausungen für Geflüchtete machen kann. Seine Firma heißt „Space Era“, und für seine Idee wurde er bereits mit dem „Global Teacher Prize“ ausgezeichnet. Er ist gerade 21 Jahre alt.

"#diesejungenleute"

Also gut, der Retter der Welt ist Kaif Ali nicht. Aber er ist Teil eines neuen Systems, in dem das Potenzial steckt, die Welt zu verändern. Positiv zu verändern. Das System heißt Kreislaufwirtschaft, im internationalen Sprachgebrauch: Circular Economy. Der junge Mann aus Neu Delhi stellt seine Firma im Rahmen eines Programms vor, bei dem Start-ups zwischen Ecuador und Vietnam aufgefordert sind, innovative Geschäftsmodelle und spannende technologische Lösungen zur Circular Economy zu präsentieren. Das Ziel: Die jungen Unternehmen sollen die Transformation zu einer zirkulären Wirtschaft unterstützen und sich positiv auf das Klima und die Dekarbonisierung auswirken.

Es handelt sich um den „Circular Economy Accelerator“, dessen Ergebnisse in ehrwürdigem Rahmen, in der Historischen Stadthalle von Wuppertal, vorgestellt werden. Man muss den jungen Wissenschaftlern und Business-Leuten aus aller Welt nur eine Stunde lang zuhören, um zu begreifen, welche Sprengkraft hinter dem Gedanken eines Wirtschaftsmodells steckt, das Probleme wie Umweltverschmutzung und Lieferengpässe minimiert und zudem das Klima schützt. Und mit dem sich, nicht zuletzt, Geld verdienen lässt. Auch das ist eine Botschaft, die in der Wuppertaler Stadthalle deutlich wird: Die Kreislaufwirtschaft ist keine bloß gut gemeinte Idee, wie man sie angesichts der aktuellen Nachhaltigkeits-Euphorie oft zu hören bekommt, sondern ein ökonomisch sinnvolles, konkretes Konzept. Die Initiatoren des Wuppertaler Start-up-Programms formulieren es so: „Circular Economy ist die nächste industrielle Revolution.“

Das klingt sehr hoch gegriffen, ist aber keineswegs übertrieben. Hat die Circular Economy tatsächlich die Kraft, die großen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen? Die Antwort lautet: Ja.

Um zu verstehen, warum das so ist, muss man einige Hintergründe kennen. Jedes Jahr, so dokumentiert es der „Circularity Gap Report“, fördert der Mensch mehr als 100 Milliarden Tonnen Rohstoffe aus der Erde: Gas, Öl, Metalle.

"Unvorstellbar! Damit muss Schluss sein!"

Und wie viel von diesen 100 Milliarden werden wiederverwendet? Gerade mal 8,6 Prozent. Der Rest ist verloren und trägt im schlechtesten Fall zum Beispiel durch Verbrennung zum Klimawandel bei. In Deutschland verbraucht laut Deutschem Naturschutzbund jeder Mensch rund 16.000 Kilogramm Rohstoffe pro Jahr – maximal 12 Prozent davon stammen aus dem Recycling. Leider hat jede Nutzung massive Auswirkungen auf die Umwelt: Riesige Abfallmengen entstehen, Flächen werden verbraucht, Emissionen und Schadstoffe freigesetzt.

Und warum? Weil die Wirtschaft weltweit bisher überwiegend nach einem linearen Modell aufgebaut ist. Das Prinzip heißt: „Abbauen – produzieren – entsorgen“. Schon seit der industriellen Revolution arbeiten Unternehmen nach dieser Devise. Egal in welcher Branche, egal in welcher Gegend der Welt: Das Prinzip ist überall gleich. Und allzu oft wird es exzessiv angewendet: Rohstoffe dienen der Herstellung von minderwertiger Massenware, die gekauft und oft schon nach einmaligem Gebrauch weggeworfen wird.

"+ viele Produkte bestehen aus schwer verwertbaren Materialien wie Misch-kunststoffen."

Viele Unternehmen stellen ihre Produkte planmäßig mit möglichst geringer Lebensdauer her („geplante Obsoleszenz“), darunter beispielsweise Elektronikartikel, Akkus und Druckerpatronen. Kein Wunder, dass sich in weiten Teilen der Welt ein entsprechender Lebensstil etabliert hat, der auf schnellen Konsum ausgerichtet ist und von einer Wegwerfmentalität geprägt ist.

"Hallo, Henne-Ei-Dilemma - siehe Kapitel 6."

Ein kleiner, fast ironisch wirkender Beweis gefällig? Auf dem Weg zur Historischen Stadthalle Wuppertal und den innovativen Start-ups kommen die Besucher an einem Modeladen vorbei, vor dessen Schaufenstern große Wühltische aufgebaut sind. Darin: Massen von Stiefeln mit Profilsohle, die an ein berühmtes Schuhdesign von Prada erinnern. Sie bestehen aber aus billigstem Kunststoffmaterial. Der Preis: 9,90 Euro.

Muss man erwähnen, dass durch Phänomene wie „Fast Fashion“ nicht nur die Menschen in Niedriglohnländern ausgebeutet, sondern auch Rohstoffe vergeudet werden? Dazu kommt die Umweltbelastung durch Mikroplastik und Chemikalien. Und natürlich der CO2-Ausstoß bei Produktion und Entsorgung. Nach Angaben der britischen Ellen-MacArthur-Stiftung verursacht die Textilindustrie jährlich 1,2 Milliarden Tonnen CO2 – mehr als alle internationalen Flüge und Kreuzfahrten zusammen.

"Trotzdem gibt’s dort auch (& vor allem dort) einen Kreislauf: Riesenmengen CO2 gelangen in die Atmosphäre - und kehren als Klimakatastrophe zurück."

Dem gegenüber wirkt das Prinzip einer zirkulären Wirtschaft wie aus einer anderen Welt. Auch dieses System gibt es seit langem – aber nicht erst seit der ersten industriellen Revolution, sondern seit Bestehen der Erde. Seitdem das erste Leben auf unserem Planeten entstanden ist, zerfällt es und entsteht wieder neu – das Prinzip von Werden und Vergehen, wie Aristoteles sagt. Jedes organische Material durchläuft einen zirkulären biologischen Prozess. Die Natur verschwendet nichts. Es ist an der Zeit, dass sich die Menschen bei der Produktion ihrer Güter an dieses Urprinzip erinnern. Es ist in Wahrheit das modernste Prinzip der Welt.

Weiter lesen? Jetzt hier das komplette Buch bestellen.