Von Martin Eisenhut
Kommentiert von Madeleine Hofmann

Deutschland schaltet die Atomkraftwerke ab, Frankreich steckt frische Milliarden in seine Nuklearindustrie. Belgien lässt seine Meiler doch länger laufen, Polen setzt weiter auf Kohle. Norwegen frohlockt über sprudelnde Öleinnahmen, Österreich ist noch abhängiger von Russen-Gas als Deutschland. Ein treffenderes Wimmelbild, um Chaos zu illustrieren, ist kaum vorstellbar. Kann man mit solchen Akteuren eine gemeinsame europäische Energiepolitik machen? Es scheint zum Verzweifeln.

Das passt zu einem Europa-Klischee, über das sich seit Jahren wunderbar spotten lässt. Zerstritten, zaudernd, ohne klare Richtung: Kräftig befeuert von Nationalisten und den Europa-Gegnern in allen Ländern, wurde das immer gleiche Narrativ genüsslich weiter erzählt. In Großbritannien manifestierte sich die Anti-EU-Stimmung zum bis dato größten Bruch des europäischen Gedankens, dem Brexit.

Und es ist ja auch wahr: Nicht nur in der Energiepolitik, auch in der Agrar- und der Finanzpolitik überlagern nationale Interessen mehr als einmal den Gemeinschaftsgedanken. Wo ist die Linie Europas, wenn man sich nicht mal über Rechtsstaatsprinzipien und eine Einwanderungspolitik einigen kann?

Und doch, trotz allem Lamento und allen Schwachstellen wird der alte Kontinent beim Klimawandel, in der wichtigsten Zukunftsfrage, eine prominente, wenn nicht sogar die führende Rolle übernehmen. Die Energiewende, das globale Megathema Nachhaltigkeit kann von Europa entschieden und entscheidend vorangetrieben werden.

Die Chancen stehen gut, vielleicht sogar besser als je zuvor. Dafür gibt es gute Gründe. Einige liegen auf der Hand, andere erschließen sich erst auf den zweiten Blick, und einige hätte man vor einigen Monaten noch nicht so erwartet. Es gibt ein Programm, und es gibt einen konstanten gesellschaftlichen Konsens. Geld soll fließen, richtig viel Geld, und es gibt eine epochale Krise, die das Projekt beflügelt.

Im Juli 2021 präsentierte die EU-Kommission das Maßnahmen-Paket „Fit for 55“. Es konkretisiert den European Green Deal, in dem sich ausnahmslos alle 27 Länder der EU verpflichten, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Mehr noch: „Bis 2050 soll die EU zum ersten klimaneutralen Kontinent werden“, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Rede ist von nichts weniger als einem Komplett-Umbau der Wirtschaft in ein umweltverträgliches System.

"Schön wäre eine Wirtschaft mit Umweltverträglichkeit als Grundsatz."