Text von Vincent Schicktanz und Tim Kremser

„Mein Flug wurde gestrichen. Das ist mir heute zum dritten Mal passiert. Drei Umbuchungen, dreimal Warten am Gate, dreimal Flug gestrichen.“ Diese Leidensgeschichte erzählte ein verärgerter Fluggast unlängst bei einem spontanen Zusammentreffen am Flughafen. Und der Passagier ist mit seinem Frust nicht allein: Nach den vielen Flugausfällen und Verspätungen in diesem Sommer hat das Image der Flugbranche in Europa gelitten. Doch was war passiert?

Ein Rückblick: Im Pandemiejahr 2020 ist das Passagieraufkommen innerhalb der EU auf 27 Prozent des Niveaus von 2019 gefallen. Eine Industrie, die im Wesentlichen nur ein stabiles jährliches Wachstum mit maximal kleinen Dellen kannte, war darauf nicht vorbereitet. Selbst große, profitable Fluggesellschaften standen unmittelbar vor der Insolvenz und konnten lediglich mit staatlicher Hilfe gerettet werden. Die Folge: Immense Sparprogramme wurden aufgesetzt, auch um dem Kostendruck der neuen Anteilseigner Rechnung zu tragen. Angefangen bei den großen Hebeln wie Personaleinsparungen bis hin zu kleinen Maßnahmen wie der Reduktion von mobilem Datenvolumen bei Firmenhandys wurden sämtliche Ausgaben auf mögliche Einsparungen überprüft. Unerwünschter Nebeneffekt: Der Verlust von motivierten und ambitionierten Mitarbeitern, die in der Industrie keine Aufstiegschancen mehr für sich sahen oder ihre Prioritäten im Zuge der Nachhaltigkeitsbewegung bereits verschoben hatten. Nach dem Ausbleiben des erwarteten Neustarts im Spätsommer 2020 beziehungsweise Sommer 2021 haben wir die Folgen des starken Hochfahrens auf rund 80 Prozent des Vorkrisenniveaus im Sommer 2022 alle zu spüren bekommen. Obwohl viele Fluggesellschaften zusätzliche Puffer eingeplant hatten, fehlte an vielen Stellen Personal und es musste zu drastischen Maßnahmen gegriffen werden. Und dann war da noch die unerwartete Coronawelle im Juni. Sie traf die Industrie schließlich ins Mark. Die ohnehin schon hohe Belastung bei den Mitarbeitern an Flughäfen und Fluggesellschaften plus die zusätzlichen Coronafälle führten innerhalb weniger Wochen zu extrem hohen Krankenquoten. Die Personalausfälle konnten nur noch mit (kurzfristigen) Flugstreichungen aufgefangen werden.

Alle Fluggesellschaften reduzierten ihr Flugprogramm, teilweise um mehr als zehn Prozentpunkte. KLM stoppte sogar den Ticketverkauf und verringerte die Frachtmenge, um das Bodenpersonal zu entlasten. Der Flughafen London Heathrow führte eine Obergrenze von 100.000 Passagieren pro Tag ein, um mit der Personalknappheit alle Passagiere abfertigen zu können. Lufthansa ließ Maschinen ohne Passagiere starten, um den Flugbetrieb zu stabilisieren und Gepäckstücke nachsenden zu können. Die Hauptursachen für all diese Schwierigkeiten liegen dabei sicherlich in der vorsichtigen Planung, die auf Basis der Erfahrungen aus den Vorjahren ausgeführt wurde. Hinzu kommen langsame Prozesse und ein schwieriger Arbeitsmarkt.

Der Weg nach vorne

Mittlerweile hat sich der Flugbetrieb jedoch spürbar stabilisiert. Erste Maßnahmen scheinen zu wirken. Insgesamt bleibt die Branche aber vorsichtig. KLM hat zum Beispiel angekündigt, die Ticketverkäufe noch bis März einzuschränken. Jüngste Nachrichten aus Düsseldorf, Köln/Bonn oder Berlin zeigen zudem, wie anfällig die Systeme weiterhin sind. Um ein ähnliches Chaos im nächsten Jahr zu verhindern, müssen Flughäfen und Fluggesellschaften den Fokus auf drei Themen richten: Mitarbeiter, Agilität und Resilienz. Mitarbeiter: Nach den coronabedingten Kündigungen fanden die ehemaligen Mitarbeiter oftmals Jobs in anderen Industrien. Pakete bei DHL auszufahren ist körperlich weniger belastend, als Koffer auf dem Vorfeld zu schleppen. Im Lebensmitteleinzelhandel zu arbeiten ist entspannter, als sich von genervten Fluggästen am Gate beschimpfen zu lassen. Zusätzlicher Effekt: Mit dem verstärkten Nachhaltigkeitsbewusstsein verliert die Aviation-Branche den Zauber, der die Industrie einst umwob. Somit sind eine faire Bezahlung, Teamspirit und eine ehrliche Auseinandersetzung über die Herausforderungen, aber auch Chancen im Umbau der Industrie notwendig, um Mitarbeiter für die vielen offenen Stellen zu gewinnen. Zusätzlich müssen die Chancen der Digitalisierung genutzt werden, um die täglichen Aufgaben für die Beschäftigten zu erleichtern.

Agilität: Die Luftfahrtindustrie kannte bis 2019 nur Steigerungen von rund zwei bis sieben Prozent jährlich. Entsprechend sind die Prozesse, IT-Systeme und Regulatorien bisher so ausgelegt, dass Flughäfen und Fluggesellschaften vor großen Herausforderungen stehen, um mit stärkeren Schwankungen im Flugvolumen umzugehen. Eine Verbesserung wird nur über drei unterschiedliche Hebel möglich sein: Hebel 1 erfordert neue Strukturen, die eine bereichsübergreifende und agilere Zusammenarbeit fördern. Sie sind dringend notwendig, um die höhere Volatilität managen zu können. Hebel 2 betrifft die Beschleunigung des Kommunikationsflusses. Auch wenn viele Mitarbeiter im Homeoffice sind, müssen Möglichkeiten des strukturierten Austausches gefunden werden, damit die Arbeit im Team zielgerichtet funktioniert. Hebel 3 nimmt eine Überarbeitung der häufig älteren Softwaresysteme in den Blick. Diese wird zwingend erforderlich sein, um zügig auf die richtigen Informationen zugreifen und diese analysieren zu können.

Resilienz: Eine resiliente Operation am Flughafen zeichnet sich dadurch aus, dass bei Störungen nicht sofort das Gesamtsystem zusammenbricht. Hierfür braucht es in Zukunft eine systempartnerübergreifende Absprache in den Planungsprozessen sowie gezielte Puffer in Boden- bzw. Flugzeiten, um eine Basisrobustheit zu schaffen. Mehr Datentransparenz, verbesserte Zusammenarbeit mit Providern und intelligente Algorithmen sind die wichtigsten Maßnahmen, um durch eine smarte Steuerung Störungen abfangen zu können. Zusätzlich wird es wichtig sein, zumindest die Prozessperformance der Vorkrisenjahre durch stabile Abläufe wiederherzustellen.

Doch die Zeit rennt. Mit der Motivation, in den nächsten Jahren ein besseres Erlebnis für die Kunden bieten zu können, müssen die entsprechenden Transformationsprogramme jetzt aufgesetzt werden. Mitarbeiter, Agilität und Resilienz werden in der Industrie für die kommenden Jahre zentrale Themen sein. Neben der langfristigen Transformation müssen wichtige Erfolge bis zum Sommer 2023 erzielt werden, sodass die dreimaligen Flugstreichungen an einem Tag allen erspart bleiben.